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Wie Organisationen erfolgreich Stress erzeugen: Multitasking auf drei Ebenen

von Joris Wachter

Menschen, agile Teams und Organisationen leiden, wenn sie gleichzeitig vielen Tätigkeiten nachgehen

Photo by Matt Bero on Unsplash

Nicht selten hört man von Multitasking-Fähigkeiten und verbindet damit intuitiv etwas Gutes, trotz aller Belege dafür, dass das menschliche Gehirn nicht dafür geeignet ist, mehrere Dinge gleichzeitig zu erledigen. Multitasking ist im Kontext von Organisationen nicht nur bei „Einzelgehirnen” interessant, sondern auch bei Teams und ganzen Organisationen. Wir werfen einen Blick auf die drei Ebenen und deren Wechselwirkungen.

Multitasking in Onlinemeetings ist so verlockend

Sehen wir vom direkten Sozialkontakt ab, hat die starke Verbreitung von Online-Zusammenarbeit in der letzten Zeit auch ein paar Vorteile mit sich gebracht. Doch „Hand auf’s Herz”: Wieviel Zeit verbringen die Teilnehmenden in Online-Meetings damit, nebenbei etwas anderes zu erledigen, sei es nur Mails überfliegen, Benachrichtigungen im Blick zu haben oder anderes, das nicht unmittelbar mit dem zu tun hat, was gerade im Meeting passiert? Es ist verlockend, weil man bereits am Bildschirm sitzt. Zunächst glaubt man, effizienter zu sein, wenn man Dinge mal schnell nebenher erledigt — doch ist das wirklich so?
Wird das parallele Arbeiten in Online-Kommunikationsformen stark praktiziert, kommt es meiner Erfahrung nach zu mehr Missverständnissen, Verständigungsproblemen und wiederholten Nachfragen. Die nicht unwichtige Frage, wie ein Meeting eigentlich gestaltet werden kann, damit fokussiert zusammengearbeitet wird und Multitasking möglichst nicht passiert, lassen wir zunächst einmal außer Acht.

Multitasking ist kognitive Überladung

Weshalb Multitasking für das Gehirn schwierig ist, ist sehr umfangreich untersucht. Ein wesentlicher Faktor ist der kognitive Aufwand der Kontextwechsel, die dabei stattfinden. Genaueres kann man beispielsweise in einer sehr fundierten Zusammenfassung von @titiatscriptor auf Twitter nachlesen:

Ein paar Inhalte daraus:

  • Multitasking, d.h. häufiges Hin- und Herwechseln zwischen Aufgaben funktioniert höchstens bei stark habitualisierten Tätigkeiten und dort auch nicht gut
  • Task Switching führt zu Produktivitätsverlusten von bis zu 40%
  • Auch das Gerücht, Frauen seien besser im Multitasking als Männer, lässt sich nicht systematisch nachweisen

Photo by Maxim Ilyahov on Unsplash

Zu dieser individual-kognitiven Betrachtung kommt noch der soziale Faktor: Wenn jemand in einer Gesprächsrunde sein Handy in der Hand hält und Nachrichten liest oder im Online-Meeting parallel Emails schreibt, fällt das auch den anderen auf (vorausgesetzt, man hat „Sichtkontakt”). Wird das Thema nicht angesprochen, verstärkt es sich unter Umständen und entwickelt sich zur allgemein akzeptierten Kommunikationskultur. Man kann dann nicht mehr sicher sein, wer überhaupt noch zuhört und auch selbst zuzuhören ist umso schwieriger.

Auf Teamebene in agilen Setups ist das Multitasking ein Dauerbrenner. Kanban stellt das Prinzip der Limitierung von gleichzeitig angefangener Arbeit in den Mittelpunkt, indem Work-in-Progress bewusst begrenzt wird. Auch in Scrum Teams wird immer wieder auf den One-Piece-Flow hingearbeitet, also dem Prinzip, möglichst immer nur ein einziges Thema gleichzeitig zu bearbeiten und möglichst schnell abzuschließen. Dabei gibt es allerlei Herausforderungen auf dem Weg: Abhängigkeiten von außerhalb des Teams machen es schwer, man beginnt zu früh oder lässt sich durch „dringendere” Aufgaben ablenken.

Die Symptome in Scrum sind bekannt: Das Team fängt alles an und wird am Ende des Sprints nicht fertig, die Kommunikationsaufwände werden sehr hoch, beispielsweise im Daily Scrum oder bei Zwischenabstimmungen, und die Sprints verlieren Fokus, weil alles auf einmal eingeplant wird. Der Effekt der Kontextwechsel ist vergleichbar mit jenen beim individuellen Multitasking. Sie führen nicht nur dazu, dass man im Vergleich insgesamt langsamer ist, man läuft auch Gefahr, unnötige Dinge zu tun.
So gut die Zusammenhänge im Kanban-Umfeld bekannt sind, so schwer ist es auch, die Erkenntnisse umzusetzen. Es ist nämlich auch nicht so, dass sofort alles besser wird, wenn man sich etwa bewusst auf ein Work-in-Progress-Limit einlässt. Zunächst werden nur die Schwierigkeiten des Gesamtsystem auf schmerzhafte Weise sichtbar. Diese können dann Schritt für Schritt gemeinsam reflektiert und weiterentwickelt werden.

Organisationales Multitasking

Lasst uns nun einen gedanklichen Transfer herstellen: Wenn Multitasking für Einzelpersonen und Teams ähnliche Muster hervorbringt, was bedeutet das auf Organisationsebene?
Es bedeutet, dass eine Organisation gleichzeitig sehr viele Initiativen beginnt und bearbeitet und wenig – oder nichts – fertig wird. Das führt einerseits zu Ineffizienz und Aufwand und erzeugt letztlich organisationalen Stress, andererseits führt es zu Ineffektivität, indem Dinge getan werden, die nicht mehr oder noch nicht sinnvoll sind.
Sicherlich macht es einen Unterschied, welche Art Organisation hier gemeint ist, ob es etwa um die Bäckerei von nebenan oder einen Produktionskonzern geht. Außerdem existieren Organisationen genau zu dem Zweck, große Vorhaben umzusetzen, die einzelne Personen nicht bewältigen können - etwa ein Flugzeug bauen. Die grundsätzlichen Prinzipien sind jedoch dieselben. Besonders deutlich ist das in Bezug auf Produktorganisationen und der Frage nach Innovation erkennbar: Der Fokus auf wenige wirkungsvolle Initiativen und deren Evaluierung ist wertvoller, als alles gleichzeitig anzufangen und mit nichts fertig zu werden.

Focusing on everything is synonymous with not focusing on anything.” — E. Goldratt

Warum hält sich das Muster trotzdem?

In unserem Kulturkreis findet man selten Unternehmen, in denen man Menschen sagen hört: „Heute Nachmittag steht für mich absolut gar nichts auf der Agenda, ich freue mich, zu überlegen, womit ich mich heute beschäftigen werde!”. Es ist in vielen Unternehmen immer noch der modus operandi, dass alle ausgelastet und beschäftigt sind.
Das hat nun den Effekt, dass man sich augenscheinlich auf individueller Ebene beruhigen kann: Man ist wichtig und wertvoll für die Organisation (je mehr Stress, desto wertvoller). Meine Hypothese ist, dass die Ursache aber eine systembedingte ist. Werden viele Organisationsziele gleichzeitig verfolgt, führt das unweigerlich dazu, dass auch die Teams zu Multitasking gezwungen sind, was sich wiederum auf die nötigen Kontextwechsel von einzelnen Personen auswirkt.

Mit Kanban-Prinzipien können nicht nur Teams ihren Arbeitsfluss steuern, sie lassen sich auch als Personal Kanban anwenden und auf Produktorganisationsebene, wie es etwa Portfolio Kanban oder das Flight-Levels Modell vorsehen. Ein persönliches WIP-Limit hilft aber nur, wenn der Kontext das auch zulässt. Daher ist die einflussreichste Ebene das organisationale Multitasking und das Reflektieren der organisationseigenen Muster. Entscheidend ist dabei auch, Ende-zu-Ende Verantwortung in funktional integrierte Teams zu verlagern. Wenn diese Verantwortung größtenteils außerhalb des Teams liegt, führt das unweigerlich zu Push-Systemen, die systematisch Multitasking erzeugen.

 

Quellen und Links

Simulating the Negative Consequences of Multitasking on Flow, Throughput, and Value Generation
https://www.infoq.com/articles/multitasking-problems/
https://twitter.com/titiatscriptor/status/1441130146107383809
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