Lösungsorientiertes Coaching in Retrospektiven anwenden
von Franziska Beck„Retrospektiven bringen nichts!“.
Hinter dieser Haltung stecken oftmals Erfahrungen mit Meetings, die aus endlosen Diskussionen bestehen. Konkrete Ergebnisse bleiben aus, stattdessen endet der Termin in Schuldzuweisungen. Manchmal werden zwar Verbesserungsmaßnahmen definiert, jedoch im Nachgang nicht umgesetzt. Egal wie- es mündet unweigerlich in die Frustration der Beteiligten.
Wenn dir diese Situation bekannt vorkommt, kannst du in diesem Artikel erfahren, was es braucht, um Retrospektiven gewinnbringend zu gestalten.
Dazu werden wir zunächst die eben beschriebenen Dynamiken ergründen, um sie bewusst durchbrechen zu können. Dann schauen wir uns alternative Vorgehensweisen aus dem lösungsorientierten Coaching an und ziehen einen Vergleich zum gewöhnlichen Ablauf einer Retrospektive. Abschließend leiten wir Erkenntnisse für eine erfolgreiche Durchführung von Retrospektiven ab.
Warum Retrospektiven manchmal scheitern
Machen wir ein kleines Selbst-Experiment: Was fällt dir hier auf?
20 + 7 = 27
43 – 5 = 38
35 ÷ 5 = 6
13 + 23 = 36
Tatsächlich? Du hast den Fehler entdeckt!
Das ist nicht verwunderlich. Unser Gehirn ist bestens darauf trainiert, das Fehlerhafte oder das nicht Funktionierende hervorzuheben. Häufig geschieht das mit einem Tunnelblick, der völlig außer Acht lässt, was alles einwandfrei funktioniert. Sobald wir einen Fehler entdecken, analysieren wir die Ursache oder bewerten die Situation negativ. Mental fixieren wir uns auf die Schwierigkeiten und nehmen sie als unüberwindbare Hürden wahr. Unsere Gedanken kreisen um das Problem. In vielen Situationen übersehen wir dadurch Verbesserungs- oder Lösungsmöglichkeiten. Außerdem fühlen wir uns lustlos, etwas zu ändern.
Diese natürlichen Mechanismen nehmen Einfluss auf die Grundhaltung der Teams und können in Retrospektiven besonders zum Vorschein treten . Die Ohnmacht drückt sich in diesem Fall oftmals dadurch aus, dass das Team glaubt, andere seien dafür verantwortlich, Lösungen zu finden oder umzusetzen. Wie können wir diesem Schema entgegenwirken und Retrospektiven erfolgreich durchführen?
Lösungsorientiertes Coaching
Im Systemischen Coaching geht es zentral darum, den Coachee bei der Entwicklung eigener Lösungen zu begleiten. Das Ergebnis bzw. die Maßnahmen, die dabei erarbeitet werden, sollen derart zur Persönlichkeit und Kontext des Coachees passen, dass die Umsetzung für ihn leicht erscheint und er sich energetisiert fühlt. Bewusst hebelt der Coach die oben beschriebenen Vorgänge aus.
Um herauszufinden, wie eine Coachin vorgeht, schauen wir uns einmal den Ablauf eines Coachings genauer an:
Bevor das Coaching starten kann, bemüht sich die Coachin, eine lockere Atmosphäre und ein Vertrauensverhältnis zur Coachee aufzubauen. Ein unverfänglicher Small Talk abseits vom Thema prägt daher oft den Beginn des Coachings.
Anschließend geht es darum, das Anliegen der Coachee zu klären. Das Gesprächsthema des Coachings wird mit Hilfe von Verständnisfragen erörtert und klar herausgearbeitet. In vielen Fällen hat sich die Coachee im Vorfeld schon sehr auf die erlebten Schwierigkeiten versteift. Um diese Problemkonzentration zu durchkreuzen, meidet die Coachin vertiefende Fragen, beispielsweise nach den bekannten oder vermuteten Ursachen. Stattdessen ist sie bemüht, diese Gesprächsphase kurz zu halten, um schnell mit dem eigentlichen und wirkungsvollen Coaching loslegen zu können.
Der nächste und im Grunde genommen erste Schritt der Coachingleistung ist meist der Längste. Hier werden vom Coachee konkrete Ziele formuliert und der gewünschte Zustand mit all seinen Auswirkungen ausgemalt. Wir neigen dazu, unsere Wünsche dahingehend zu formulieren, dass wir unsere Probleme loswerden möchten. „Problem X ist weg“ ist jedoch noch keine Beschreibung dessen, was anstelle des Problems treten soll. Deshalb unterstützt der Coach den Coachee, eine positive Ausdrucksform der eigenen Ziele zu finden. Er nimmt sich Zeit, gemeinsam mit dem Coachee die gewünschte Situation umfassend zu Visualisieren. Aus „Weg von [Problem]“ wird dann „hin zu [Wunschzustand]“. Damit verhilft er ihm, den Fokus auf die Lösung zu richten. Erst wenn es dem Coachee gelingt, die verbesserte Situation positiv formuliert und mit allen Auswirkungen im Detail zu beschreiben, ist er bereit für die nächste Coachingstufe.
Anschließend dreht sich das Coaching um die vorhandenen Ressourcen. Die Coachee wird angeregt, sich Gedanken über die Dinge zu machen, die für ihre Zielerreichung schon gegeben sind. Die Coachin stellt gezielt Fragen zu bestehenden Umständen, die sich positiv auf das Ziel auswirken. Beispielsweise erkundigt sie sich bei der Coachee, welche ihrer Fähigkeiten sie dabei unterstützen, ihre Ziele zu erreichen. Auch Fragen zu bisher gemachten Erfolgen werden in diesem Schritt durch die Coachin wirkungsvoll eingesetzt. Je mehr aufbauende Aspekte die Coachee findet, desto gestärkter und näher am Ziel fühlt sie sich.
Vor diesem Hintergrund fällt es dem Coachee wesentlich leichter, den Weg in Richtung der gewünschten Zukunft zu identifizieren. Der Coach unterstützt den Coachee dabei, wenige, realistische und kleine Maßnahmen zu definieren, die im individuellen Einflussbereich liegen. Es geht lediglich um den nächsten Schritt, den der Coachee machen kann, nicht um den kompletten Pfad zum Ziel. Das hilft, das Gefühl von Überforderung zu vermeiden und motiviert dazu, aktiv zu werden. Hat der Coachee das eigene Vorhaben einmal konkret benannt, liegt die Verwirklichung meist nicht mehr fern.
Um darüber hinaus die Umsetzungswahrscheinlichkeit der erarbeiteten Lösung weiter zu steigern, folgt der letzte Schritt. Darin bemüht sich die Coachin, die Zweifel der Coachee auf ein Niveau zu senken, das nicht vom Handeln abhält. In diesem Sinne erfragt die Coachin, wie zuversichtlich die Coachee ist, das Ergebnis dieser Coachingstunde umzusetzen.
Eine geringe Zuversichtlichkeit bedeutet, dass der für die Coachee tatsächlich funktionierende Weg noch nicht ausreichend ermittelt wurde. In diesem Fall wiederholt die Coachin die Phasen der lösungsorientierten Gesprächsführung, bis das Coaching mit einem zufriedenstellenden Ergebnis beendet werden kann.
Zum Abschluss holt sich der Coach noch Feedback vom Coachee ein und erkundigt sich über dessen Zufriedenheit mit dem Coaching generell.
Ein Vergleich mit typischen Retrospektiven
Wie können wir nun statt einzelner Coachees ganze Teams dabei unterstützen, Lösungen für ihre Herausforderungen zu finden und die nötigen Veränderungen durchzuführen? Können wir den lösungsorientierten Coachingansatz in Retrospektiven einbauen und was bedeutet das für die Umsetzung?
Stellen wir zunächst einmal die Vorgehensweisen einer typischen Retrospektive dem eben beschriebenen Coaching-Ablauf gegenüber.
Für die Durchführung von Retrospektiven wird weit verbreitet die fünf-gliedrige Struktur für den Meetingaufbau genutzt, die Esther Derby und Diana Larsen in ihrem Buch „Agile Retrospektives – Making Good Teams Great“ vorstellen:
- Set the stage (Gesprächsklima schaffen)
- Gather data (Themen sammeln)
- Generate insights (Erkenntnisse gewinnen)
- Decide what to do (Entscheidungen treffen)
- Close the retrospective (Abschließen)
Fassen wir das oben beschriebene Vorgehen im Coaching zusammen, ergibt sich folgender Gesprächsablauf:
- Lockere Atmosphäre schaffen
- Anliegen klären
- Wunschzustand erarbeiten
- Ressourcen erkennen
- Handlungsweisen festlegen
- Zuversicht überprüfen
- Feedback einholen
Beim Abgleich dieser Gliederungen lassen sich grobe Ähnlichkeiten erkennen. Vor allem die Parallelen der ersten und letzten Phase fallen auf. Das sollte es einfach machen, die Vorgehensweisen des lösungsorientierten Coachings in den Mittelteil der Retrospektive einzubauen.
Im Coaching begleiten wir in der Regel nur eine Person bei der Lösungsfindung. Daher gelingt es meist recht schnell, das prominenteste Anliegen zu erarbeiten. In einem Team stellt es jedoch eine besondere Herausforderung dar, die subjektiven Wahrnehmung der Mitglieder zu bündeln, um sich auf das wichtigste Thema zu einigen.
Deshalb sammeln wir im zweiten Schritt der Retrospektive zunächst die unterschiedlichen Perspektiven der Teilnehmer. Für den Erfolg der Retrospektive ist es von zentraler Bedeutung, hierbei darauf zu achten, dass die Themen zwar genannt, nicht aber in aller Ausführlichkeit diskutiert werden. So können wir dem entgegenwirken, dass sich die Teilnehmer mental auf die Probleme fixieren.
Esther Derby und Diana Larsen schlagen vor, nach der Themensammlung mit der Gruppe zu reflektieren, welche übergreifende oder sich wiederholende Punkte erkennbar sind. Sobald diese festgelegt wurden, gilt es den nächsten Schritt der Retrospektive einzuleiten.
Beim Vergleich der beiden Abläufe ist an diese Stelle ein signifikanter Unterschied erkennbar: Der Schritt „Erkenntnisse gewinnen“ bei Retrospektiven ist beim Systemischen Coaching in „Wunschzustand erarbeiten“ und „Ressourcen erkennen“ aufgeteilt.
Folgt man dem Verfahren von Esther Derby und Diana Larsen, geht es in der Erkenntnisgewinnung darum, die gesammelten Themen auszuwerten, zu interpretieren und zu analysieren. In der Praxis wird an dieser Stelle häufig eine Problemanalyse durchgeführt. Hierfür beliebte Vorgehensweisen sind beispielsweise die Fishbone oder 5-Whys-Methode, die in „Agile Retrospektives – Making Good Teams Great“ beschrieben sind.
Aus dem eben beschriebenen Coachingansatz wissen wir, dass es psychologisch für den Prozess der Lösungsfindung hinderlich ist, sich vertieft mit der identifizierten Problematik auseinander zu setzen. Förderlich dagegen ist die detaillierte und positive Darlegung der verbesserten Situation und der dafür vorhandenen Mittel. Demnach spielt es für den Erfolg der Retrospektive eine maßgebliche Rolle, welche Methode der Erkenntnisgewinnung gewählt wird.
Der Arbeitsschritt, in dem Entscheidungen getroffen werden, ist im Coaching ebenfalls zweigeteilt: „Handlungsweisen festlegen“ und „Ergebnis überprüfen“. Dies steht im Einklang mit den Empfehlungen von Esther Derby und Diana Larsen, die betonen wie wichtig es ist, ein Commitment von jedem Einzelnen einzuholen.
In der Praxis beobachten wir stattdessen, dass dieser elementare Schritt manchmal stiefmütterlich behandelt wird. Teammitglieder können dazu neigen, nur deshalb Maßnahmen zu nennen oder unkommentiert abzunicken, um das Meeting schnell zu beenden. Die Beteiligten sind darüber erleichtert, ein Ergebnis für den Termin erzielt zu haben und vermeiden weitere Diskussionen.
Ein dedizierter Zeitrahmen für die Ergebnisüberprüfung und eine gezielte Abfrage, wie zufrieden jeder Einzelne mit den bisher definierten Maßnahmen ist, kann eine erneute und vertiefte Auseinandersetzung mit dem Lösungsweg entfachen. So anstrengend dies für den Einen oder Anderen sein mag, ist dieser Schritt notwendig, um jeden im Raum abzuholen und die Selbstverpflichtung des Teams für die Umsetzung zu erhöhen.
Abschließende Erkenntnisse für die Durchführung von Retrospektiven
Wir können ohne Weiteres unsere Vorgehensweisen in Retrospektiven dahingehend verändern, dass wir gezielt die Ansätze aus dem Coaching nutzen. Insbesondere, wenn Teams dazu neigen, auf der Stelle zu treten, kann ein lösungsfokussiertes Vorgehen in Retrospektiven nützlich sein.
Wenn Teams demotiviert sind etwas zu verändern oder glauben, dass Verbesserungen in ihrer Situation nicht möglich sind, kann die intensive Auseinandersetzung mit vorhanden Problemen eine Stagnation verstärken. Tendieren beispielsweise Teams dazu, immer wieder das gleiche Thema zu diskutieren, kann es Wunder wirken, eine gemeinsame Vorstellung zu erarbeiten, was sich das Team stattdessen wünscht.
Um das Team dabei zu unterstützen, die angestrebte Situation mit ihren Auswirkungen zu visualisieren, eignen sich Fragestellungen wie diese:
- „Was soll anstelle von… sein?“
- „Was ist anders, wenn ihr ein zufriedenstellendes Ergebnis erreicht habt?“
- „Woran erkennen andere Teams, dass eine Verbesserung eingetreten ist?“
- „Wer wird als Erstes bemerken, dass ihr etwas geändert habt?“
- Etc.
Darüber hinaus können wir das Team stimulieren oder gar Blockaden lösen, indem wir mit ihnen bisherige Erfolge und vorhandene Stärken aufdecken.
Eine besonders wirkungsvolle Methode hierfür ist die Skalenabfrage: „Wo steht ihr gerade auf einer Skala von 0-10 (10=Ziel erreicht, 0=schlimmster Zustand)?“. Das Ergebnis kann dann weiter erkundet werden: „Was habt ihr dazu beigetragen, dass ihr schon bei X steht?“ oder „Was von dem, das für die Zielerreichung gebraucht wird, steht uns schon zur Verfügung?“
Das schöne bei dieser Skalenabfrage ist, dass sie mit Fragen wie „Angenommen, ihr wärt mittlerweile schon auf x+1. Wie ist das passiert?“ auch dabei hilft, Maßnahmen zu definieren. Auch für die Überprüfung des Ergebnisses am Ende der Retrospektive kann mit einer Skalenabfrage gearbeitet werden: „Wie zuversichtlich seid ihr, dass ihr die Maßnahme umsetzen werdet?“, „Was fehlt noch, um x+1 zuversichtlicher zu werden?“
Diese Fragestellungen sind nur einige Beispiele für ein lösungsorientiertes Durchführen von Retrospektiven. Maßgebend für eine erfolgreiche Lösungsfindung ist lediglich eine motivierende Vorgehensweise. Zentral hierfür ist der positive und ausführliche Blick nach vorne. Er resultiert daraus, den Status Quo aufzuwerten, kleine und daher umsetzbare Schritte zu definieren und damit die Zuversicht der teilnehmenden zu stärken. Im Idealfall tritt anstelle des „Wir haben ein Problem“ ein überzeugtes „Wir haben definierte Maßnahmen, um unseren Wunschzustand zu erreichen!“.
Falls sich in deinem Team eine gewisse Veränderungslethargie etabliert hat, probiere es doch einfach mal aus!
Quellen
„Agile Retrospectives. Making Good Teams Great” von Esther Derby und Diana Larsen. The Pragmatic Programmers; ISBN 0-9776166-4-9 |
„Agile Teams lösungsfokussiert coachen“ von Veronika Jungwirth und Ralph Miarka, dpunkt.verlagGmbH; ISBN-10 3864908965 |